Berufungsprozess wegen des Naziüberfalls auf linke Flohmarkt-Besucher*innen erneut ausgesetzt

Wir dokumentieren an dieser Stelle die Pressemitteilung der “Opferberatung Rheinland (OBR)” vom 05. März 2014:

Die Opferberatung Rheinland (OBR) berät und unterstützt Betroffene rechter und rassistischer Gewalt. Ein elementarer Aspekt in der Arbeit ist die psychosoziale Prozessbegleitung und Prozessbeobachtung in spezifischen Gerichtsprozessen.
Ein am Wuppertaler Landgericht laufender Prozess gegen vier Neonazis, die am 25.09.11 auf dem Vohwinkler Nachtflohmarkt alternative und linksorientierte Besucher_innen gezielt angegriffen und teils schwer verletzt haben, wurde erneut ausgesetzt. Damit steht die gerichtliche Aufarbeitung auch zweieinhalb Jahre nach der Gewalttat weiter aus. Hierdurch wird den teils traumatisierten Angegriffenen und weiteren Zeug_innen zugemutet, ein viertes Mal in Anwesenheit der Täter und anderen Neonazis ihre Aussage zu wiederholen. Wiederholte Bedrohungen von Zeug_innen durch die Angeklagten und weitere Neonazis vor und im Umfeld des Prozesses wurden bereits in den bisherigen Verfahren offen- und aktenkundig. Aus Opferperspektive ist der Prozessverlauf zudem problematisch, weil der Schutz persönlicher Daten nicht hinreichend gewährleistet wird.
Der Vorfall und die prozessuale Aufarbeitung
In der Nacht vom 24. auf den 25.09.2011 griffen mehrere, mit Holzknüppeln bewaffnete Neonazis alternativ-aussehende Besucher_innen des Flohmarktes in Wuppertal Vohwinkel an und verletzten diese zum Teil schwer. In der Tatnacht wurden 15 Neonazis als dringend Tatverdächtige in Gewahrsam genommen. Folgend gab es eine Anklageerhebung gegen vier der Verdächtigen. Weitere durch Zeuginnen und Zeugen identifizierte Neonazis wurden aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen nicht als Angeklagte geführt.
Der gezielte Angriff reihte sich ein in mehrere gewalttätige Übergriffe gegen nicht-rechte Personen in Wuppertal. Insbesondere im Jahr 2011 hatte eine lokal ansässige Kameradschaft die Stadt Wuppertal auf massenhaft verteilten Aufklebern zur „National befreite Zone“ ernannt und vermeintliche politische Gegner_innen angegriffen. Nach der Tat auf dem Flohmarkt berichtete die Wuppertaler Polizei und die Lokalpresse von einer Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts, negierte damit die Tatmotivation und gab den verletzten Personen indirekt eine Mitschuld.
Am 15.03.2013, knapp 1 ½ Jahre nach der Tat, wurden die vier Angeklagten erstinstanzlich wegen gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen verurteilt. Dieses Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, da sowohl die Angeklagten wie auch die Staatsanwaltschaft (die für ein höheres Strafmaß plädierte) anschließend Berufung einlegten. Bereits im Dezember kam es, nachdem nahezu alle Betroffenen und unabhängigen Zeug_innen ihre Aussagen vor Gericht wiederholt hatten, aufgrund der Erkrankung eines Schöffen zu einer Unterbrechung der Hauptverhandlung um mehr als drei Wochen. Dies hatte zur Folge, dass nach Strafprozessordnung (§229 StPO) der Prozess inklusive aller bereits erfolgten Zeugenvernehmungen ausgesetzt und neu verhandelt werden musste. Im Januar 2014 kam es zur Neueinsetzung der Berufungsverhandlung. In den folgenden fünf Verhandlungstagen sagte wieder ein Großteil der Betroffenen und Zeug_innen aus.
Nun wurde das Verfahren erneut ausgesetzt, Begründung hierfür ist, dass wegen der länger andauernden Erkrankung eines Richters die 3-Wochen-Frist nicht eingehalten werden kann und somit der Prozess wieder komplett neu verhandelt werden muss. Wegen der wiederholten Unterbrechung wurde zudem am 25.02.2014 der gegen den Angeklagten Matthias Drewer (Kreisverbandsvorsitzender Partei „Die Rechte“ KV-Wuppertal) verhängte Haftbefehl aufgehoben. Dies halten wir aus der Perspektive der Betroffenen für fatal.
Die Folgen aus Opferperspektive
Fakt ist, dass den teils durch die Tat schwer traumatisierten Personen nun ein viertes Mal die Aussagepflicht vor dem Landgericht bevorsteht. Die Vernehmung der Zeug_innen findet jedes Mal unter Anwesenheit der Täter und weiterer sich mit den Tätern solidarisierenden und teils bei der Tat anwesenden Neonazis statt.
Solcherlei Prozesse stellen aus einer professionellen Opferperspektive gleich mehrere Probleme dar. Zum einen besteht für verletzte und traumatisierte Personen durch eine Konfrontation mit den Tätern die akute Gefahr einer direkten und nachhaltigen Retraumatisierung, die teils elementare Einschnitte in das alltägliche Leben der betroffenen Personen bedeuten und wenn überhaupt nur durch langwierige und intensive psychologische Betreuung aufgearbeitet werden können. Zum anderen ergeben sich durch Aussagen bei Gericht reale Gefahren der Reviktimisierung. So kam es wiederholt im Vorfeld des Prozesses und im Gerichtsgebäude zu Bedrohungen durch die Angeklagten und ihren Anhängern. Darüber hinaus ist es eine bekannte Strategie in neonazistischen Kreisen, sich Namen und Adressen von vermeintlichen Feind_innen und Belastungszeug_innen zu verschaffen, um diese durch nachhaltige Bedrohung und Drangsalierung im privaten Bereich einzuschüchtern. Aufgrund dieser Problematik kam es in dem genannten Prozess – zumindest teilweise – zur Adressschwärzung. Leider wurden im Berufungsverfahren persönliche Daten aber wieder aktenkundig bzw. öffentlich verlesen. Dies kann für die Betroffenen weit reichende und auch verheerende Folgen haben.
Fazit
Die Wuppertaler Neonaziszene gehört seit Jahren zu den aktivsten in Nordrhein-Westfalen. Sie ist für zahlreiche Gewalttaten in den letzten Jahren verantwortlich. Neuerdings treten sie unter dem Partei-Label „Die Rechte“ auf, sind deshalb aber nicht weniger militant. So stellte der Kreisverband Wuppertal am 16.06.2013 einen Song ins Internet, in dem linken Nazi-Gegnern unverhohlen der Tod angedroht wurde. Vorsitzender des Wuppertaler Kreisverbandes „Die Rechte“ ist Matthias Drewer, der nun wegen der erneuten Prozessunterbrechung aus der U-Haft entlassen wurde. In diesem Zusammenhang sind wir besorgt, dass die Bedrohung durch die Wuppertaler Neonaziszene unterschätzt und nicht ernst genug genommen wird. Wir fordern deshalb Justiz und Polizei auf, einen maximalen Opfer- und Zeugenschutz zu gewährleisten und künftig dafür Sorge zu tragen, dass ohnehin belastete Zeug_innen durch mehrfaches Aussetzen des Prozesses nicht zusätzlich traumatisiert werden.